Doch wo liegt der optimale Absprungspunkt?
Wenn mir ein Reiter diese Frage stellt, antworte ich zunächst stets Folgendes: «Der richtige Sitz macht 5% für einen gelungenen Sprung aus. Die übrigen 95% bestehen aus einem guten Galopp, dem Panoramablick und der Kontrolle des Pferdes (...)
Wenn mir ein Reiter diese Frage stellt, antworte ich zunächst stets Folgendes: «Der richtige Sitz macht 5% für einen gelungenen Sprung aus. Die übrigen 95% bestehen aus einem guten Galopp, dem Panoramablick und der Kontrolle des Pferdes.» Wenn Sie diese 95 % im Griff haben, können Sie sicher sein, einen Absprungplatz zu finden, mit dem Sie das Hindernis unter guten Bedingungen angehen können, selbst wenn Sie etwas zu weit oder etwas zu nah dran sind. Umgekehrt, falls Sie hingegen durch großen Zufall am optimalen Absprungplatz angekommen sind, ohne alle anderen Parameter zu beherrschen: Sitz, guter Galopp, Kontrolle…, so stehen Ihre Chancen 100 %, einen misslungenen Sprung zu machen.
Der Sprung und der Absprung sind mit dem Abschlussexamen zu vergleichen, das Ergebnis von jahrelangem Studium. Wenn man das Examen erst am Vorabend vorbereitet, ist es zu spät! In der halben Sekunde zwischen dem Absprung und dem Sprung ist alles bereits gelaufen... es hat keinen Sinn mehr, zu büffeln. Genau in diesem Moment muss man loslassen: Die Bewegung geschehen lassen und das Ergebnis der Arbeit abwarten, die sowohl langfristig als auch kurzfristig, während der letzten 7 Galoppsprünge, vollbracht wurde.
Wir müssen aufhören, uns mit dieser Geschichte des richtigen Absprungs-punktes heraus zu reden. Ich sage es noch einmal: Der Absprungspunkt ist nicht von vorrangiger Bedeutung! Damit sucht man nur nach Ausreden. Dabei fällt mir eine kleine Anekdote ein: Als ich dabei war, einen Reiter zu unterrichten, sagte mir dieser: «Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich komme immer schlecht an die Hindernisse heran. Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, dass es nicht daran lag, dass er das Hindernis auf den letzten Galoppsprüngen falsch anritt, sondern eher am Anreiten aus der Ferne. Um ihm sein Problem klar zu machen, verschob ich das Hindernis einfach nach jedem Durchgang. «Ah, nun bist du zu weit weg? Kein Problem, ich werde das Hindernis um 30 cm verschieben. Zu nah? Dann verschieben wir es um weitere 40 cm.» Nach einer Weile musste festgestellt werden, dass der Absprungspunkt wirklich niemals stimmte!
«Es ist jedoch nicht möglich, dass alle Hindernisse immer an der falschen Stelle stehen!» Der Reiter begann sich darüber klar zu werden, dass sein Problem nicht eine Frage des Absprungpunktes war. Mit dem nach unten gerichteten Blick, einem Pferd, das auf der Vorhand ging, und verkrampften Bewegungen hatte er in der Tat keine Möglichkeit, das Hindernis gut anzureiten und einen guten Sprung zu machen. Der gute oder schlechte Absprungspunkt war tatsächlich nicht die eigentliche Ursache seines Problems. Es ist unnötig, zehnmal dieselbe Prüfung abzulegen, wenn man sie nicht richtig vorbereitet... man wird zehnmal durchfallen!
Wenn der Reiter dagegen dazu in der Lage ist, Parameter wie die Kontrolle des Galopps, seine Haltung und seien Blick im Griff zu haben, und er das maximale Potenzial seines Pferdes nutzen möchte, kann er sich in der Tat um den bestmöglichen Absprungpunkt bemühen... wobei zu beachten ist, dass dieser nicht für alle Pferde derselbe ist. Manche fühlen sich in dichteren Distanzen wohler, und manche mit längeren Distanzen. Es gibt keine absolute Regel. Auch hier geht es eher um das Gefühl als um Mathematik. Der Reiter muss im Laufe von mehreren Durchgängen an kleinen Hindernissen einzuschätzen lernen, welcher Abstand für sein Pferd am angenehmsten ist. Diesen Absprungplatz sollte man vorrangig anvisieren.
Es ist zu beachten, dass je nach Potenzial des Pferdes mehr oder weniger Spielraum besteht. Ich persönlich variiere meinen Absprung-platz mit meinen Pferden sehr stark. Auf diese Weise bleiben sie aufmerksam und lernen, sich ihrer Vorderbeine und ihrer Schultern zu bedienen. Wenn man bei einem niedrigen Hindernis den Absprung sehr nah am Hindernis platziert, kann man beispielsweise die Schnelligkeit der Bewegung der Vorderbeine
trainieren. Die Zeitspanne zwischen dem Absprung vom Boden und dem Moment, wo die Karpalgelenke auf dem Gipfel der Flugkurve ganz
angewinkelt sind, ist bei einem 50 cm hohen Hindernis nämlich kürzer als bei einem 1,60 m hohen Steilsprung. Darum ist es wichtig, mit
kleinen Hindernissen zu arbeiten.
Was den Absprungpunkt anbelangt, so kann man es sich leisten, ungenau zu sein, sofern man unterhalb der maximalen Möglichkeiten des Pferdes bleibt. Wenn man mit einem Pferd, das 1,50 m springen kann, einen Steilsprung von 90 cm springt, kommt es nicht darauf an, ob man etwas näher oder etwas weiter abspringt. Wenn sich die Höhe jedoch an 1,50 m annähert, darf man keinen Fehler machen!
Die Kraft des Pferdes muss berücksichtigt werden. Man kann anhand seiner Sprungkraft beurteilen, ob es dazu in der Lage ist, im versammelten Galopp einen Oxer von 1,20 m zu springen. Nicht alle Pferde können eine engstehende Kombination springen, die aus sehr breiten Hindernissen besteht.
Bei der Analyse der ersten Sprünge kann sich der Reiter über den optimalen Abstand für sein Pferd klar werden. Dabei kann er den Galopp herausfinden, der für das zu springende Hindernis erforderlich ist, um die notwendige Kraft bzw. den Schwung zu ermitteln, damit der Sprung leicht erscheint.
Beim Anreiten einer Kombination aus zwei 2 m breiten Oxern oder einer Kombination aus zwei Steilsprüngen von 1,50 m Höhe mit kurzer Distanz ist natürlich nicht derselbe Galopp erforderlich. Die Kontrolle besteht darin, die Galoppsprünge verlängern oder verkürzen zu können, und unter diesen Umständen den richtigen Absprungspunkt finden zu können. Der Eindruck, zu dicht am Hindernis oder zu weit davon entfernt zu sein, ist normalerweise die Folge von Änderungen der Geschwindigkeit, der Motivation des Pferdes, des Schwungs, der Kraft... Bei einem Pferd, das das Hindernis mit einer guten Distanz angeht, jedoch in den beiden letzten Galoppsprüngen den Schwung verliert, hat der Reiter das Gefühl, weit vom Hindernis entfernt zu sein. Bei einem auf der Vorhand gehenden Pferd, das auf das Hindernis zustürmt, hat der Reiter hingegen das Gefühl, viel zu dicht dran zu sein. Die Kraft des Pferdes erhält man durch Schwung und Untertreten der Hinterhand, indem oft Sprünge über niedrige und breite Hindernisse gemacht werden.
Aus dem Buch "Geheimnisse und Methoden eines grossen Meisters"